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3. DIE ENTWICKLUNG UND BEGRÜNDUNG DES SELBSTVERSTÄNDNISSES DER MESSIANISCHEN JUDEN
 
 
 

Das messianische Judentum ist nicht eine vollständig neue Bewegung, sondern eher die Auferstehung einer sehr alten Bewegung." (1)
 
 

In diesem Kapitel soll der Frage nachgegangen werden, wie es zum Selbstverständnis der messianischen Juden, wie es sich heute darstellt, gekommen ist und wie die messianischen Juden ihr Selbstverständnis begründen.
 
 
 
 

I. Die Entwicklung des Selbstverständnisses der messianisch-jüdischen Bewegung
 
 

1) Die Zeit bis zum Ende des 19. Jahrhunderts

Nach obigem Zitat von D. Juster ist die messianisch-jüdische Bewegung dieses Jahrhunderts keine neue Bewegung innerhalb der Kirche, sondern die Wiederbelebung eines Phänomens, das es schon einmal in der Kirchengeschichte gab. In der Tat vergleicht sich das heutige messianische Judentum mit den Nazarenern", jener Gruppe der Judenchristen der ersten Jahrhunderte, die der heidenchristlichen Kirche konforme Dogmen hatten, in der Praxis jedoch nach den jüdischen Gewohnheiten lebten.

Die anfänglich rein judenchristliche Urgemeinde galt als innerjüdische Sekte. Die Apostel verkündigten das Evangelium mit großer Wirkung unter Juden und später auch unter Heiden. Die Judenchristen wurden zwar verfolgt von den religiösen Autoritäten, wurden aber dennoch als Juden angesehen. A. F. Glasser sieht eine Änderung dieser Tatsache in der Zeit, als immer mehr Heiden zur Gemeinschaft dazustießen.(2) Für die Judenchristen ergaben sich durch dieses Hinzukommen der Heiden Probleme: Sollten die Heiden beschnitten werden, wenn sie in die Heilsgemeinde eintreten wollten (Apg 15)? Die Apostel entschieden sich gegen diese Forderung. Das Argument lautete, daß das Heil den Heiden im Glauben zuteil wurde, genauso wie den Juden (Apg 15,9).

Im Laufe des ersten und zweiten Jahrhunderts wurden die Judenchristen von den jüdischen religiösen Autoritäten nicht mehr als Juden angesehen.(3) Auch die wachsende heidenchristliche Großkirche räumte ihnen bald das Recht nicht mehr ein, Juden zu bleiben. Erst seit dem 17. Jh. gab es einige Christen, die ihnen dieses Recht wieder zugestanden, und so gab es auch wieder erste christusgläubige Juden. Von seiten der Juden läßt sich dagegen erst in allerletzter Zeit eine wachsende Bereitschaft erkennen, die messianischen Juden als Juden anzuerkennen. Dies beweist eine Umfrage des Dahaf Research Institute in Israel aus dem Jahre 1988.(4)

Im 18. und 19. Jh. gab es also wieder christusgläubige Juden, die jedoch meist innerhalb einer heidenchristlichen Konfession blieben und darin assimiliert waren. Oft dienten sie als Pfarrer oder Missionare ihrer Kirche.(5) Ein spezifisch messianisch-jüdisches Selbstbewußtsein in größerem Umfang hatte sich noch nicht herausgebildet.
 
 

2) 1880-1930: Die Zeit der Pioniere

Erst seit etwa 1880 traten einzelne Vordenker" des messianischen Judentums hervor. Sie plädierten dafür, daß ein zum christlichen Glauben gekommener Jude ein Jude bleiben und seinem Judentum Ausdruck verleihen dürfe im Kreise von Gleichgesinnten. Solche Pioniere waren Joseph Rabinowitz, Mark Levy und wenige andere. Sie wurden vielfach angefeindet, vor allem von den Kirchen, aber auch von den anderen Judenchristen.

Der Ungar Josef Rabinowitz(6) (1837-99) wird von K. Kjaer-Hansen der Herzl des Judenchristentums" genannt.(7) In der Tat war Rabinowitz ein Pionier in der messianisch-jüdischen Bewegung der Neuzeit, indem er die erste messianische Synagoge" gründete, eine Gemeinschaft, in der christusgläubige Juden ihren Glauben an Jesus in einer jüdischen Ausprägung lebten.

Rabinowitz kam zum Glauben an Christus durch das Lesen des Neuen Testamentes, das ihm sein Schwager Lichtenstein gegeben hatte. Er äußerte sich sehr vorsichtig über christliche Inhalte gegenüber Juden, mit denen er als Rechtsberater verkehrte, und lebte weiterhin nach den jüdischen Bräuchen. 1883 nahm er Kontakt auf mit dem lutherischen Pfarrer von Kischinev, Rudolf Faltin, der bekannt war für seine Missionsarbeit unter Juden. Er teilte ihm Pläne über die Einrichtung einer christlichen Gemeinde mit, wo Juden ihr jüdisches Erbe weiterhin pflegen würden. 1885 richtete Rabinowitz eine solche Versammlung ein und nannte sie Die Israeliten des Neuen Bundes". Die russischen Behörden hatten ihm das Predigen und das Abhalten von Versammlungen erlaubt, nicht aber die Einrichtung einer christlichen Gemeinde, da er nicht autorisiert war, die Sakramente auszuteilen. Deshalb wurde seine Versammlung von den russischen Behörden auch als Synagoge angesehen. Sie hatte 100-150 Mitglieder und erregte großes Aufsehen. The Jewish Herald schrieb im Februar 1885, daß Rabinowitz' Arbeit die Aufmerksamkeit der Presse in der ganzen Welt auf sich ziehe.(8) Rabinowitz schrieb mehrere Artikel, die Delitzsch, mit dem Faltin ihn in Kontakt gebracht hatte, publizierte.(9) 1885 wurde Rabinowitz in Berlin durch einen methodistischen Pastor getauft. Hierzu hatte er ein eigenes Glaubensbekenntnis auf Hebräisch verfaßt, weil er nicht Mitglied einer bestimmten Denomination werden wollte, sondern Mitglied der universalen Kirche Christi ohne Verlust seiner jüdischen Identität. Wäre Rabinowitz in Kischinev durch Faltin getauft worden, wäre er Lutheraner geworden und nach russischem Gesetz kein Jude mehr gewesen. Delitzsch erkannte diese Entscheidung von Rabinowitz, sich taufen zu lassen, ohne Mitglied einer bestimmten Konfession zu werden, an und verteidigte sie gegenüber Kritikern. Er kritisierte zwar Rabinowitz' Beibehalten der jüdischen Sitten, wußte aber, daß dieser eine Rechtfertigungslehre hatte, die mit der Bibel übereinstimmte, und unterstützte ihn deshalb. Die Gemeinschaft des Rabinowitz feierte ihre Gottesdienste am Sabbat und hielt außer der Beschneidung auch die jüdischen neben den christlichen Feiertagen. Rabinowitz wollte die ererbten jüdischen Sitten beibehalten, insofern sie nicht mit dem neutestamentlichen Zeugnis kollidierten.

Kjaer-Hansen untersucht das Glaubensbekenntnis des Rabinowitz und kommt zu dem Ergebnis: Im März 1884, ein Jahr vor seiner Taufe, war Rabinowitz auf einem soliden theologischen Grund."(10) Die Theologie des Rabinowitz, die sich in einem eigenen Glaubensbekenntnis und Glaubens-Artikeln niederschlägt, vermeidet zwar griechische Ausdrücke, die der heidenchristlichen Kirche entstammen. Sie gebraucht dafür aber biblische Begriffe für Themen wie die Trinitätslehre oder die Christologie. Das Glaubensbekenntnis des Rabinowitz bekennt sich zur Jungfrauengeburt Jesu, zur einen katholischen und apostolischen Kirche, zur Taufe und zur Rechtfertigung ohne Gesetzeswerke, allein aus Glauben. Jesus wird allerdings nicht Gottes Sohn, sondern Erlöser Israels" und König des Hauses Jakob" genannt, er wird aber (mit einigen Zusätzen) so beschrieben wie im Apostolicum.(11) Die Trinität umschreibt Rabinowitz so: Gott schuf die Erde durch sein Wort und seinen heiligen Geist".(12)

Mark Levy, ein anderer Pionier der heutigen messianisch-jüdischen Bewegung, war mitbeteiligt an der Gründung der Hebrew Christian Alliance of America". In seinem Artikel Jewish Ordinances in the Light of Hebrew Christianity" (1917)(13) plädierte er dafür, daß Judenchristen die Freiheit haben sollten, ihr jüdisches Erbe zu pflegen. Außerdem sollten sie unter Juden ein Zeugnis dafür sein, daß Juden nicht Mitglieder des heidenchristlichen Zweiges der Kirche werden und so zu Heiden gemacht werden müßten, wenn sie in den Neuen Bund eintreten wollen. Er schrieb in einer Resolution: [Daß] unseren jüdischen Brüdern die Freiheit gelassen wird, ihre Kinder in den Bund Abrahams treten zu lassen und andere gottgegebene Riten und Zeremonien Israels zu beobachten".(14) Seine Resolution wurde damals einhellig abgelehnt. 1914 konnte er die Episkopal-Kirche dazu bewegen, sich in einer offiziellen Stellungnahme für die Gründung von judenchristlichen Gemeinden auszusprechen, in denen die jüdische Identität bewahrt werden und so ein besseres Zeugnis gegenüber den Juden abgelegt werden könne.(15)

3) 1930-1970: Die Zeit der ersten hebräischen Gemeinden

In den dreißiger Jahren entstanden erste hebräisch-christliche Gemeinden in Amerika, Argentinien und Israel. Diese Gemeindegründungen wurden von der Hebrew Christian Alliance" gefördert, vor allem in Ländern, wo Judenchristen die Aufnahme in die konfessionellen Kirchen verweigert wurde.

Diese ersten Gemeinden hatten allerdings keinen großen Einfluß auf die zukünftige Entwicklung des messianischen Judentums. Robert Winer sieht den Grund des geringen Einflußes dieser ersten Anfänge in einem Mangel an Vision. Die Motivation zur Gründung solcher Gemeinden war der Antisemitismus gewesen. Nach Winer mußte erst der Staat Israel entstehen, bis die Bewegung die prophetische Bedeutung" der Existenz des messianischen Judentums erkennen konnte.(16) Außerdem blieben die Diskussionen jener Zeit auf einer rein theoretischen Ebene, denn es gab noch keine praktische Erfahrung des Lebens in messianischen Gemeinden. Dies änderte sich erst nach 1970, als viele messianisch-jüdische Gemeinden entstanden.

Hier sollen noch zwei Biographien folgen, die den Charakter der messianisch-jüdischen Bewegung jener Zeit widerspiegeln:

In der Zeitschrift Jewish Missionary Intelligence der London Society for Promoting Christianity amongst the Jews" wurde 1937 die Biographie einer 1899 in Rumänien geborenen messianischen Jüdin, deren Name nicht genannt wird, abgedruckt.(17) Sie kam durch Kontakte mit einem Pastorenehepaar in Kronstadt zum Glauben an Jesus Christus und ließ sich auch durch diesen Pastor taufen. Später arbeitete sie in der Church Missions to Jews' Mission" in Bukarest und in der China Inland Mission" in London. Sie erzählt von sich:

Früher hatte ich immer Angst, wenn ich über Ihn [d.i. Jesus] nachdachte. Ich fürchtete, untreu zu sein gegenüber Gott, meinem Volk und dem Judaismus. Wenn ich die Sabbatlichter anzündete, wagte ich es nicht, im Neuen Testament zu lesen, um nicht der Entweihung [des Sabbat] schuldig zu werden. Inzwischen lade ich Jesus als Gast zu diesem Sabbat-Fest ein. Ich weiß, daß kein besserer Jude je gelebt hat."(18)

Zu der Zeit, wo sie das Neue Testament las und sich für den christlichen Glauben interessierte, engagierte sie sich gleichzeitig stark in der zionistischen Bewegung in Kronstadt. Hierüber sagt sie: Meine ganze Seele quält sich, ob [...] das Interesse an der zionistischen Bewegung mich nicht wegziehen möge von Gott. Habe ich nicht kürzlich Paulus' Worte gelesen: Der, der steht, sehe zu, daß er nicht falle.' Ich fühle, daß Trennung von der Welt nötig für mich ist. [...] Ich habe einen Feind im Lager - mein eigenes Fleisch."(19)

Diese Tochter Israels" hielt, wie wir dem Bericht entnehmen können, weiter den Sabbat, an dem sie die Kerzen anzündete, zu dem sie jetzt aber Jesus Christus im Gebet einlud. Ihre zionistischen Bestrebungen bezeichnete sie jedoch als fleischlich". Diese Annahme eines Teiles der jüdischer Traditionen (hier der Sabbat) und die gleichzeitige Ablehnung eines anderen Teiles der Traditionen (in diesem Falle der Zionismus) ist kennzeichnend für den Prozeß, in dem die messianischen Juden sich in diesem Jahrhundert befinden: Nämlich die Frage, welche Teile ihres jüdischen Erbes sie beibehalten können als Christusgläubige und welche Teile nicht. Heute würde kaum mehr ein messianischer Jude sagen, der Zionismus sei fleischlich", er würde höchstens gewisse politische Ausführungen desselben kritisieren.

Die zweite Biographie, die hier das Bild jener Zeit beschreiben soll, hat auch einen exemplarischen Charakter für die Identitätssuche der messianischen Juden. Diese Biographie handelt von Frau Dr. Lily Wreschner.(20)

Lily Wreschner lebte von 1939-1977 in Israel. Sie war von verschiedenen Missionsgesellschaften angestellt und verteilte während dieser ganzen Zeit Bibeln in Kibbuzim, in Fabriken, Schulen und Universitäten.

Sie schreibt über die Zeit nach ihrer Hinwendung zu Christus: Ich hatte mich dem Gott der Nicht-Juden hingegeben, so dachte ich. Das war mein ganz persönliches Geheimnis. [...] Mein jüdisches Volk sollte das nie erfahren. Niemand wußte es. Monate vergingen, und ich aß die himmlische Speise [d.i. wohl die Bibellektüre] mit unaussprechlicher Freude. Doch eine Frage blieb unbeantwortet in meinem Innern: Was hatte dieser wunderbare Christus mit meinem Judentum zu tun?"(21)

Sie bat Gott um eine Antwort und schlug die Bibel auf. Sie las das 53. Kapitel des Propheten Jesaja und meinte dann: War das wirklich ein jüdischer Prophet, der solches geschrieben hatte? War das wirklich alttestamentliche Lehre? [...] Jedes Wort sprach von Jesus. Jeder Vers war von Gott ein mächtiges Siegel und ein Beweis für meine Seele, daß ich meinen eigenen Messias gefunden, mich ihm ausgeliefert hatte, der von meinem Volk noch immer verachtet und verworfen ist, aber [...] nicht mehr von mir, einer Tochter Israels. [...] Die schmerzliche, zitternde Frage: Was wird mein jüdisches Volk sagen?' verschwand an jenem Tag aus meinem Leben. Die Jüdin in mir war völlig befriedigt, zur Ruhe gekommen. In Gottes Augen war ich die wahre Jüdin, so wie Er mich haben wollte."(22)

Frau Wreschner fand also zunächst keine Beziehung ihres neuen Glaubens zum jüdischen Volk, sie dachte, sie hätte sich dem Gott der Nicht-Juden hingegeben". Als sie jedoch das Zeugnis von Jesus Christus auch im AT fand, war die Jüdin" in ihr völlig zur Ruhe gekommen". In diesem Moment, und vor allem durch ihre bald darauf folgende Taufe in einer protestantischen Kirche war sie sich ihrer Identität sowohl in der Kirche als auch als Jüdin klar. Als sie jedoch einen Ruf als Missionarin nach Palästina empfing, widerstand [ich] fast ein Jahr lang. Das war zuviel verlangt. Hatte ich doch von meinen eigenen Reaktionen [auf das Evangelium] in so lebhafter Erinnerung, was Juden über Mission denken".(23) Sie fügte sich aber ihrem Ruf und ging zur Vorbereitung zwei Jahre lang auf eine schottische Bibelschule. Dort hatte sie Schwierigkeiten mit der historisch-kritischen Exegese und kam deshalb mit eher negativen Gefühlen den Heidenchristen gegenüber nach Israel: Eine schmerzliche und fast unlösbare Frage plagt jeden Judenchristen in Israel. Wo gehört er hin? Israel stößt ihn als Nichtjuden aus; die Nichtjuden empfindet er oft als fremd, ja feindlich. [... Ich kam] mit dem Wunsch, eine judenchristliche Kirche bauen zu helfen, nach Israel. Ich schloß mich einer judenchristlichen Gruppe an und kritisierte mit ihnen die Heidenchristen, auch diejenigen meiner Schottischen Mission, der ich angehörte. Aber ich spürte: ich hatte die Wahrheit der Kirche nicht gefunden."(24)

Das intensive Lesen von Epheser 2,11ff. zeigte ihr jedoch: Jude und Nichtjude gehören in der Gemeinde untrennbar zusammen, da die Feindschaft durch das Kreuz aus der Welt geschafft [ist]."(25) Aus Reue nahm sie einen völlig heidenchristlichen", englischen Lebensstil an und redete jetzt nur noch englisch, kaum mehr hebräisch. Erst als sie im Rentenalter wieder in der Schweiz zog und ihre englische Mitarbeiterin und enge Freundin starb, fing sie wieder an, im hebräischen Alten Testament zu lesen, und fand ihre hauptsächliche Tätigkeit darin, Begriffe und Denkformen des hebräischen ATs in heidenchristlichen Kirchengemeinden zu erklären. In hohem Alter wanderte sie wieder in Israel ein und betonte so wieder mehr in ihrer jüdischen Identität.

Dieses Hin- und Hergerissensein von einer Identität in die andere ist typisch für die messianischen Juden. Von den Juden werden sie als Abtrünnige, als Nichtjuden angesehen. Von der Kirche werden sie meist argwöhnisch betrachtet. In dieser Spannung zu leben ist sehr schwierig für die messianischen Juden. Die beiden Biographien zeigen ein Ringen der messianischen Juden dieser Zeit gerade mit ihrer jüdischen Identität. Was hatte ihr neuer Glaube mit der Tatsache zu tun, daß sie Juden waren? Die heutigen messianischen Juden können bei der Beantwortung solcher Fragen auf das zurückgreifen, was die einzelnen Vordenker des heutigen messianisch-jüdischen Selbstverständnisses (Rabinowitz, Mark Levy und andere) erarbeitet haben, wohingegen die christusgläubigen Juden in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts meist auf sich selbst gestellt waren.
 
 

4) Die Zeit seit 1970: Hebräische Christen" und messianische Juden"

Die siebziger Jahre sind gekennzeichnet durch eine große Anzahl von Gründungen messianischer Gemeinden in den USA und durch eine Änderung der Selbstbezeichnung, die ein Zeichen ist für die zunehmende Reflexion des messianisch-jüdischen Selbstverständnisses: Die christusgläubigen Juden, die sich bis dahin meist Hebrew Christians (hebräische Christen) genannt hatten, nannten sich nun häufig Messianic Jews (messianische Juden). Nicht alle christusgläubigen Juden bezeichnen sich heute so, häufig werden weiter beide Begriffe als Synonyme verwendet. Dennoch wird heute der Begriff Messianische Juden" meist vorgezogen, und hinter dieser Begriffsänderung steht eine Veränderung im Selbstverständnis: Der Begriff messianische Juden" zeigt sehr deutlich, daß Menschen, die zu dieser Kategorie gehören, Juden sind. Auch wird der Begriff Christ" vermieden, der für das jüdische Volk eine vorbelastete Bedeutung hat. Bei dieser Vermeidung des Begriffs wird dieser nicht in seiner theologischen Bedeutung verstanden (Christen als solche, die Christus angehören), sondern in der kulturellen Bedeutung, wie die Juden sie ihm geben: Ein Christ ist jemand, der nicht Jude ist.(26)

Die Hebrew Christian Alliance of America änderte 1975 ihren Namen in Messianic Jewish Alliance of America,(27) und auch die International Hebrew Christian Alliance heißt heute International Messianic Jewish (Hebrew Christian) Alliance.

Eine Entwicklung im Selbstverständnis zeigt sich auch in der Tatsache, daß die messianischen Juden in zunehmendem Maße die Gründung eigener messianisch-jüdischer Gemeinden betonen, wohingegen die hebräischen Christen meist noch Teil einer herkömmlichen Konfession gewesen waren. Grund dafür ist ein zunehmendes Bewußtsein einer eigenen theologischen Bedeutung der messianischen Juden.

Einen weiteren Unterschied beschreibt Juster: Das Hebräische Christentum sah zeitweise das Jude-Sein als eine bloße ethnische Identität an, während das Messianische Judentum sein jüdisches Leben und seine jüdische Identität als einen bleibenden Ruf Gottes ansah."(28)

Nicht nur in den USA entstanden in den 70er Jahren viele messianische Gemeinden und Synagogen, sondern auch in Israel, Südafrika, Australien und Neuseeland.(29) Die Entstehung von so vielen Gemeinden machte eine theologische Reflexion nötig und brachte so die Veröffentlichung von Artikeln und einigen Büchern über das messianische Judentum mit sich, wozu auch D. Stern's Messianic Manifesto und D. Juster's Jewish Roots gehören.

Einen Großteil dieses Jahrhunderts mußten die messianischen Juden dazu verwenden, sich selbst und den Heidenchristen zu beweisen, daß messianisches Judentum überhaupt möglich und vom biblischen Zeugnis her zu begründen ist. Erst in letzter Zeit konnten die Konferenzen, Artikel und Bücher sich mit der Frage beschäftigen, wie messianisches Judentum aussehen soll. Hier gehen die Meinungen noch sehr auseinander, und besonders die Frage, wie stark das jüdische Erbe betont werden soll, ist noch umstritten.
 
 

5) Die Entwicklung des Sendungsbewußtseins der messianischen Juden in Israel

Zur Entwicklung des messianisch-jüdischen Selbstverständnisses gehört auch die Entwicklung der evangelistischen Tätigkeiten der messianischen Juden in Israel.(30) J. R. Sibley schreibt in seinem Artikel Trends in Jewish Evangelism in Israel: Während der letzten fünf oder sechs Jahre [...] bestand der offensichtlichste Unterschied im wachsenden Interesse der Gläubigen selbst an evangelistischen Aktivitäten und ihre Einbeziehung in diese Aktivitäten."(31) Vor zehn Jahren, so Sibley, seien die messianischen Juden noch sehr schüchtern gewesen und die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes oder andere Formen der Unterdrückung habe die meisten messianischen Juden davon abgehalten, evangelistisch tätig zu sein. Eine Änderung dieses Zustandes habe sich vor allem dadurch ergeben, daß die messianischen Juden einsahen, daß die Verfolgung, die sie so sehr gefürchtet hatten, unvermeidbar ist. Diese Erkenntnis habe ihnen den Mut gegeben, sich inmitten des israelischen Volkes öffentlich zu ihrem Erlöser zu bekennen. Bald seien dann auch evangelistische Organisationen und Ausbildungsmöglichkeiten entstanden.(32)
 
 
 
 

II. Die Begründung des Selbstverständnisses der messianisch-jüdischen Bewegung
 
 

Das Selbstverständnis der messianischen Juden tendiert, wie wir bis jetzt gesehen haben, immer mehr in die Richtung der gleichzeitigen Identität in der Kirche Jesu Christi und im jüdischen Volke. Liest man Schriften von messianischen Juden, so wird ihre Zugehörigkeit zur Kirche Christi dort wenig behandelt, hingegen um so ausführlicher ihre Zugehörigkeit zum Volke Israel. Das liegt daran, daß ihre Zugehörigkeit zur Kirche Christi als selbstverständlich angesehen wird, was bei ihrer Zugehörigkeit zum jüdischen Volke nicht immer der Fall ist. Ich gehe deshalb in den folgenden Ausführungen vor allem auf die Begründung der fortdauernden jüdischen Identität der messianischen Juden ein.
 
 

1) Die Begründung aus der Schrift

In dem von der Hebrew Christian Alliance herausgegebenen Büchlein Why Hebrew Christian?(33) wird der Frage nachgegangen, weshalb man überhaupt von Hebräischen Christen" sprechen kann. Vier Gründe werden genannt: Die Schrift, der Auftrag am jüdischen Volk, der Auftrag an der Kirche und der Auftrag an der Welt.

In der Begründung aus der Schrift werden Galater 3,28 und Galater 2,12 herangezogen.(34) In Christus sind weder Jude noch Grieche, so Galater 3,28, aber auch weder Mann noch Frau (ebd.).(35) Von der Natur her bleiben Mann und Frau ihres Geschlechts, auch wenn sie in Christus eine Einheit haben, die sie zuvor nie hatten. Genauso bleibe die natürliche Realität bei Juden- und Heidenchristen, auch wenn sie eins in Christus seien. Paulus, so das Büchlein weiter, erwähnt in Galater 3,28 zwei Gruppen, mit denen Petrus jeweils ißt, die aus den Heiden" und die aus der Beschneidung".(36) Beide Gruppen seien Teil der damaligen Kirche gewesen. Hier, bei der Benennung der zweiten Gruppe (die aus der Beschneidung"), sei die Rechtfertigung für die eigene Bezeichnung als Hebräische Christen" zu finden. Mit den Versen aus 1. Korinther 7,17-20 (Ist jemand als Beschnittener berufen, der bleibe bei der Beschneidung. Ist jemand als Unbeschnittener berufen, der lasse sich nicht beschneiden [...]") und dem Kommentar Deshalb Warum Hebräischer Christ?'!" endet das Büchlein.(37)

D. Juster argumentiert folgendermaßen:(38) Auch wenn im Neuen Bund ein neues Volk Gottes aus Juden und Heiden geschaffen wurde, so ist dennoch Israel als Nation durch die Verheißung Gottes weiterhin berufen: Die Verheißungen Israel gegenüber gelten ewig (Jer 33,19-22) und die Berufung Gottes können ihn nicht gereuen" (Röm 11,29). In dieser Weise könne auch das Selbstverständnis des Paulus verstanden werden: Trotz der Betonung, die er auf seine Teilhabe am neuen Volk Gottes lege (Gal 3,26-29; Eph 2,14), beschreibe Paulus sich selbst als Jude, was er auch durch freiwilliges Halten der Tora beweise (Apg 18,18; 20,6; 1Kor 9,20). Für Paulus bestehe also zwischen beidem kein Widerspruch.

2) Die Begründung aus der Geschichte

In der Begründung ihrer Identität sowohl in der Kirche als auch im jüdischen Volke beziehen sich die heutigen messianischen Juden häufig auf die Judenchristen der ersten Jahrhunderte (d.h. die Nazarener), für die ihre jüdische Identität selbstverständlich war. Sie beziehen sich jedoch auch auf die Tatsache, daß die Juden infolge der Beziehung zwischen Kirche und Synagoge in der Geschichte heute im Christentum eine nichtjüdische, also heidnische Religion sehen, die jeden Juden, der den christlichen Glauben annimmt, von seinem eigenen Volk entfremdet. Der Grund dafür liegt in einer einseitigen Verkündigung der Kirche, in der Jesus mit dem Judentum wenig zu tun hatte und die Juden ihres jüdischen Erbes entfremdet wurden. Durch ihr Festhalten an der jüdischen Identität wollen die messianischen Juden dieses Bild vom Christentum, das die Juden im allgemeinen haben, korrigieren und denselben zeigen, daß der Glaube an Jesus den Messias die Erfüllung und Vollendung des Judentums ist.

3) Die Begründung aus der Heilsgeschichte

Ein weiteres Argument, das häufig von messianischen Juden zur Begründung ihrer weitergehenden jüdischen Identität verwendet wird, ist die Anschauung, daß das Volk Israel auch nach dem Kommen Jesu ein auserwähltes Volk bleibt und eine spezielle Rolle in Gottes Heilsplan hat. Weil die messianischen Juden sich als Teil des jüdischen Volkes sehen, haben sie ihrer Meinung nach auch Anteil an der zukünftigen Rolle Israels in der Heilsgeschichte.

Die Bibel stellt das jüdische Volk als ein besonderes Volk unter den Völkern dar. Ebenso haben die messianischen Juden, obwohl sie Teil des Leibes Jesu sind, eine besondere Rolle innerhalb dieses Leibes. Jeder Teil eines Leibes, so argumentiert P. Libermann, habe eine besondere Funktion.(39) Und so hätten auch die messianischen Juden eine besondere Funktion, die mit der Berufung Israels zusammenhinge.

Dies ist der Grund, warum es eine zionistische Bewegung innerhalb des messianischen Judentums gibt. Als ein Beispiel dafür wäre der messianische Jude Steven Lightle zu nennen, der häufig in die ehemalige Sowjetunion fuhr, um die dortigen Juden zur Rückkehr nach Israel zu ermahnen und der 1991 eine Schiffslinie von Odessa nach Haifa organisierte, um russische Juden nach Israel bringen.(40)
 
 

4) Die Begründung aus dem Auftrag gegenüber Israel

Das Büchlein Why Hebrew Christian? geht in seiner Begründung des messianisch-jüdischen Selbstverständnisses auch auf die Mission der messianischen Juden am eigenen Volk ein:(41) Die Berufung der messianischen Juden sei, den Juden zu zeigen, daß der Glaube an Jesus Christus kein Abfall vom jüdischen Glauben ist, sondern die Erfüllung desselben, denn Jesus ist der, von dem Mose und die Propheten geschrieben haben". So sei die wahrhaftige Bedeutung der Tora offenbart, und damit die Tora noch wichtiger geworden als vorher. Außerdem gelte es, dem jüdischen Volke zu zeigen, daß keiner ein Christ ist durch seine Geburt, sondern durch eine Neugeburt durch Gottes heiligen Geist. Es gelte auch, dem Beispiel des Apostels Paulus zu folgen, der sagt: mein Gebet zu Gott ist, daß sie errettet werden" (Röm 10,1).

D. Juster beruft sich auf Paulus' Aussage: den Juden bin ich ein Jude geworden, um die Juden zu gewinnen" (1Kor 9,20). Er schreibt: Indem ein Jude seinem Erbe gegenüber loyal ist, schafft er die größtmögliche Gelegenheit, seinen Glauben anderen loyalen Juden mitzuteilen, die dies sonst sofort ablehnen würden."(42) Auch David Stern sieht im messianischen Judentum das beste Mittel, um die Juden als Volksganzes mit dem Evangelium zu erreichen.(43)

P. Libermann wiederum argumentiert folgendermaßen:(44) Die Kirche habe ihren Auftrag, Juden für das Evangelium zu gewinnen, bisher nicht erfolgreich ausführen können. Der Grund dafür liege darin, daß sie ein Element der jüdischen Psychologie nicht erkannte: Nämlich daß ein Jude, ob er religiös ist oder nicht, als Jude geboren wurde und auch als Jude sterben will. Alles, was dies bedroht, würden die Juden vermeiden. Das messianische Judentum nun verlange von den Juden nicht, erst Heiden zu werden, wenn sie den jüdischen Messias annehmen wollen. Im Gegenteil, der zum Glauben an Christus gekommene Jude sei dann ein vollendeter Jude" (engl. completed Jew).
 
 

5) Die Begründung aus dem Auftrag gegenüber der Kirche und der Welt

Das Büchlein Why Hebrew Christian? beschreibt die Berufung der messianischen Juden innerhalb der Kirche so:(45) Der messianische Jude innerhalb der Kirche erinnere diese zu jeder Zeit an die Lektion vom Ölbaum (Röm 11), nämlich daß alle gesegnet seien durch den Patriarchen Abraham. Durch das messianische Judentum sei das Christentum mit dem Judentum verbunden. Dieses erinnere das Christentum an die historischen Taten Gottes und bewahre das Christentum so, sich als reine Philosophie oder Anthropologie anzusehen.

Auch sei die Gegenwart der Hebräischen Christen in der Kirche ein Zeugnis sowohl dafür, daß Juden und Heiden in Christus eins gemacht wurden, als auch dafür, daß Gott sein Volk nicht verstoßen, sondern sich einen Überrest innerhalb des jüdischen Volkes bewahrt hat.

Den universalen Auftrag, den das berufene Volk Gottes für die Welt hat, beschreibt das Büchlein Why Hebrew Christian? so:(46) Als Teil des jüdischen Volkes hätten die Hebräischen Christen teil an dessen Auftrag, Licht für die Welt" (Jes 49,6) zu sein, für die Welt, deren einzige Hoffnung in der Existenz unter der Herrschaft des Gottes Israels und des Messias Israels bestünde. Aus Jerusalem müsse dieses Licht scheinen, nicht aus Rom, London oder Washington. Gleich darauf warnt der Autor des Büchleins jedoch vor jeder Art von Stolz: [Wir sind] auserwählt, ja - für einen bestimmten Zweck: Nämlich, um andere unter denselben Segen zu bringen. Inzwischen suchen wir unseren Platz in der einen Kirche Christi."(47)

Nach D. Stern's Ansicht hilft das messianische Judentum sowohl der Kirche als auch dem jüdischen Volke, ihre ihnen von Gott gegebene Berufung einzunehmen. Das zentrale Thema dieses Buches [Messianic Jewish Manifesto] ist, daß es ohne das messianische Judentum - Judentum, das Jeschua (Jesus) als den Messias annimmt -sowohl dem jüdischen Volk wie auch der Kirche nicht gelingen wird, ihre eigentlichen und herrlichen Ziele zu erreichen."(48) Die Berufung des jüdischen Volkes sowie der Kirche sei es, Gott bekannt zu machen. Israel soll ein Licht für die Nationen sein (Jes 49,6). Dieses Licht werde Israel aber nie sein ohne den, der das Licht der Welt ist (Joh 8,12). Die Kirche soll alle Nationen zu Jüngern machen (Mt 28,18-20), damit jene, die fern vom Bürgerrecht Israels gewesen seien, nun nahe seien (Eph 2,11-22). Die Kirche werde aber, so David Stern, nie andere Israel nahe bringen, wenn sie nicht eine enge Beziehung zum jüdischen Volk pflegt, was durch die momentane Konfliktsituation noch nicht gegeben sei. Deshalb werde das messianische Judentum sowohl dem jüdischen Volke als auch der Kirche helfen, ihre Ziele in der richtigen Weise zu erfüllen - allerdings werde dies nicht aus eigener Kraft geschehen, sondern durch Gott, dem alle Dinge möglich sind (Mk 10,27).(49)
 
 

6) Die Begründung aus der Versöhnung von Kirche und Volk Israel

Nach D. Stern wirkt das messianische Judentum durch seine Zugehörigkeit sowohl zur Kirche als auch zum jüdischen Volk Versöhnung zwischen diesen beiden Gruppen, die durch das schlimmste Schisma der Weltgeschichte voneinander getrennt seien.(50) P. Libermann sieht im messianischen Judentum das Instrument Gottes, um den Zaun der Feindschaft abzubrechen, der zwischen Juden und Heiden war (Eph 2,14). Er schreibt: Das Messianische Judentum ist ein lebendiger Beweis dafür, daß es keinen wesentlichen Unterschied zwischen dem Christentum und dem wahren Judaismus der Bibel gibt."(51)
 
 
 
 

7) Messianisch-jüdische Vision"

D. Juster stellt im letzten Kapitel seines Buches Jewish Roots die Frage, was die Vision des messianischen Judentums sein könnte.(52) Seine Antwort lautet: Sie ist keine geringere als diejenige, die dynamische Kraft des Evangeliums inmitten der jüdischen Gemeinschaft wiederherzustellen."(53) Diese Verkündigung des Evangeliums werde einen eigenen jüdischen Ausdruck des Glaubens an Jesus Christus bewirken. Das Ziel sei nicht die Zerstörung der jüdischen Gemeinschaft, sondern die Entwicklung von Wegen, die es jüdischen Menschen ermöglichen könnten, Teil der universalen Kirche zu sein und dennoch gleichzeitig Teil des jüdischen Volkes zu bleiben. Das messianische Judentum, so Juster weiter, sei noch in einer Embryo-Phase, aber die ersten sichtbaren Früchte seien positiv: Viele jüdische Menschen seien in den letzten Jahren durch den Dienst von messianischen Gemeinden zum Glauben an Jesus den Messias gekommen. Das messianische Judentum müsse ein Zeichen sein für die zukünftige Vereinigung des jüdischen Volkes mit dem Leib Christi, wobei Israel und sein besonderer Beitrag im Leib erhalten bleibe. Justers Buch schließt mit dem Wunsch: Mögen wir Licht und Salz sein in der jüdischen Gemeinschaft, eine sichtbare Vertretung des Königreiches von Yeschua. Mögen wir Salz und Licht sein für die Welt."(54)

4. ERGEBNIS
 
 

Die messianisch-jüdische Bewegung ist eine relativ junge Bewegung innerhalb der weltweiten Kirche Jesu Christi. Es gab sie allerdings schon während der ersten Jahrhunderte der Kirchengeschichte. Im 4.Jh. verschwand diese Bewegung, weil die Kirche ihr keinen Raum mehr ließ: Die Juden, die den christlichen Glauben annehmen wollten, mußten ihrer jüdischen Herkunft abschwören. Infolge der durch die Aufklärung verursachten Toleranz in der Gesellschaft und infolge eines neuen Israelverständnisses der Pietisten und Puritaner, die den christusgläubigen Juden ihre jüdische Identität wieder zugestanden, gab es wieder mehr Juden, die sich dem Evangelium zuwandten. Zu einer Bewegung formierte sich der Glaube der christusgläubigen Juden allerdings erst Ende des 19. und Anfang des 20.Jh. Zunächst trafen sich die christusgläubigen Juden in Kreisen mit ihresgleichen, blieben jedoch in ihren jeweiligen Konfessionen. Seit den sechziger Jahren allerdings gründen sie vermehrt eigene Gemeinden, in denen sie ihr jüdisches Erbe pflegen.

Entgegen der Theorie, die lange Zeit in der Kirche herrschte, nämlich daß Gott sein Volk Israel verstoßen habe und seit Christi Kommen das Jude-Sein keine Bedeutung mehr habe, glauben messianische Juden(55) an die bleibende Erwählung und Berufung Israels. Sie sehen sich auch in ihrem Glauben an Christus verbunden mit dem jüdischen Volk und dessen Schicksal. Sie glauben, daß die alttestamentlichen Verheißungen der geistlichen und physischen Wiederherstellung Israels sich zwar im geistlichen Verständnis in der Kirche erfüllt haben, sich im wörtlichen Verständnis jedoch am Volk Israel noch erfüllen werden. Dementsprechend besteht ihr Sendungsbewußtsein gegenüber Israel einerseits in der Verkündigung des Evangeliums von Jesus, dem Messias Israels, andererseits in der Förderung zionistischer Ziele und der Förderung der jüdischen Identität von messianischen Juden.

Entgegen der Theorie, die heute oft in der Theologie herrscht, nämlich daß die Juden ihren eigenen Heilsweg haben, das Opfer Christi für ihre Rechtfertigung nicht bräuchten und daß es deshalb (auch gerade wegen der Fehler der Christen gegenüber den Juden) unsachgemäß sei, ihnen das Evangelium zu verkündigen, glauben die messianischen Juden, daß keiner gerechtfertigt wird ohne Christus - auch nicht die Juden. Deshalb ermahnen viele messianische Juden die Kirche, ihren Auftrag der Evangeliumsverkündigung auch den Juden gegenüber wahrzunehmen, allerdings in einer sich von der herkömmlichen Weise unterscheidenden Art, die das Jüdische im neutestamentlichen Evangelium berücksichtigt und die christusgläubigen Juden nicht ihrem Volk entfremdet.

1. 1 D. JUSTER, Jewish Roots, S. 148 (Herv. D. J.).

2. 2 Vgl. A. F. GLASSER, Jewish Identity Yesterday and Today, S. 22.

3. 3 Durch die Aufnahme des Birkat ha minim ins Schmone-Esre wurden die Judenchristen faktisch aus der Synagoge ausgeschlossen (s. o. Kap. 1).

4. 4 Bei dieser Umfrage wurden israelische Personen gefragt, ob messianische Juden mithilfe des Rückkehrrechts (law of return") in Israel einwandern dürften. Dieses Rückkehrrecht wird nur Juden gewährt, die nicht zu einer anderen Religion übergewechselt sind. Die heutigen religiösen Autoriäten sehen nun nach wie vor einen Religionswechsel vorliegen, wenn ein Jude den Glauben an Christus annimmt. So entscheidet sich an der Frage, wer das Rückkehrrecht in Anspruch nehmen darf, auch die Frage, wer Jude ist und wer nicht. Die Umfrage des Dahaf Research Institute ergab, daß 61% der israelischen Bevölkerung folgenden Personen das Recht einräumte, von dem Rückkehrrecht Gebrauch zu machen: Eine Person, die von einer jüdischen Mutter geboren wurde; die glaubt, daß Yeschua der Messias ist; die sich selbst als Jude sieht und sich als solcher fühlt und die getauft wurde im Rahmen einer messianisch-jüdischen Gemeinde" (54% räumten dieses Recht messianischen Juden ein, die in einer christlichen Kirche" getauft wurden). Hier zeigt sich eine große Offenheit in der jüdischen Bevölkerung Israels, auch die messianischen Juden als Juden zu akzeptieren. Vgl. The Dahaf Report on Israel Public Opinion Concerning Messianic Jewish Aliyah, in: Mishkan 10 (1989), S. 83.

5. 5 Vgl. die Biographien von Judenchristen dieser Zeit, z.B. in L. MEYER, Eminent Hebrew Christians of the nineteeth century, New York 1983. Zwei Beispiele sollen hier genannt werden: Isidor Loewenthal (1826-1864) arbeitete unter Moslems in Indien als Missionar der Presbyterian Church (vgl. ebd., S. 5). Victor Herschell (1821-1856) war Pfarrer in der Church of England, und er predigte häufig Juden das Evangelium (vgl. ebd., S. 7).

6. 6 Lit.: K. KJAER-HANSEN, Josef Rabinowitz - The Herzl of Jewish Christianity, in: Mishkan 14 (1991), S. 1-14.

7. 7 Ebd., S. 1.

8. 8 Vgl. ebd., S. 5f.

9. 9 Vgl. S. WAGNER, Franz Delitzsch. Leben und Werk, S. 163.

10. 10 K. KJAER-HANSEN, a. a. O., S. 9. Vgl. auch J. JOCZ, The Jewish People and Jesus Christ, S. 235: Die Wichtigkeit der Bewegung, die durch Rabinowitz ins Leben gerufen wurde, liegt darin, daß sie katholisch war in Bezug auf die christliche Lehre, daß sie zur gleichen Zeit jedoch jüdisch war. Wir haben [...] die Autorität des Prof. Franz Delitzsch und des Prof. G. Dalman, die für die Orthodoxie der Ansichten von Rabinowitz bürgen."

11. 11 [...] Erlöser für Israel, Jesus; der geboren wurde von der Jungfrau Maria in der Stadt Bethlehem in Judäa; der gelitten hat, gekreuzigt wurde, gestorben ist und begraben wurde zu unserer Erlösung. Er stand von den Toten auf, er lebt und sitzt zur Rechten des Vaters, der im Himmel ist, und von dort wird er wahrhaftig wiederkommen, um die Erde und die Toten und Lebenden zu richten. Er ist der König des Hauses Jakobs ewiglich und sein Königreich hat kein Ende." K. KJAER-HANSEN, Josef Rabinowitz - The Herzl of Jewish Christianity, S. 9f. (Herv. A. H.).

12. 12 Ebd., S. 9.

13. 13 Vgl. R. WINER, The Messianic Jewish Alliance of America 1901-1939, in: Mishkan 15 (1991), S. 63.

14. 14 Zit. in R. WINER, ebd., S. 64. Winer gibt leider kein Datum für die Re- solution an.

15. 15 Vgl. D. JUSTER, Jewish Roots, S. 149.

16. 16 Erst mit der Entstehung des Staates Israel konnten jüdische Gläubige die prophetische Bedeutung ihrer Bewegung vollständig begreifen und ihre Prinzipien ausdrücken." R. WINER, The Messianic Jewish Alliance of America 1901-1939, in: Mishkan 15 (1991), S. 66.

17. 17 A Daughter of Israel. The first instalment of an article by an anonymous writer translated by the Rev. J.H. Adeney. In: Jewish Missionary Intelligence", The London Society for Promoting Christianity amongst the Jews, London Februar 1937, S. 21; März 1937, S. 33f.; April 1937, S. 45; Mai 1937, S. 56f.

18. 18 Ebd. (März 1937), S. 34.

19. 19 Ebd. (April 1937), S. 45.

20. 20 Vgl. L. WRESCHNER, Wie Gott mein Suchen nach Wahrheit erfüllte, S.15ff.

21. 21 Ebd., S. 15.

22. 22 Ebd., S. 16 (Herv. L. W.).

23. 23 Ebd., S. 19.

24. 24 Ebd., S. 20f.

25. 25 Ebd., S. 21.

26. 26 Vgl. D.JUSTER, Jewish Roots, S. 153.

27. 27 Vgl. R. WINER, The Messianic Jewish Alliance of America 1901-1939, in: Mishkan 15 (1991), S. 59.

28. 28 D. JUSTER, Jewish Roots, S. 153.

29. 29 Der Name messianische Gemeinden" darf nicht das Mißverständnis her- vorrufen, es wären nur Judenchristen Mitglieder in solchen Gemeinden. Meistens bestehen diese Gemeinden aus Juden- und Heidenchristen.

30. 30 In Amerika ist die Situation anders, denn dort gibt es schon länger aus- gesprochen evangelistische Aktivitäten durch die messianischen Juden, wie z.B. die Organisation Jews for Jesus.

31. 31 J. R. SIBLEY, Trends in Jewish Evangelism in Israel, in: Mishkan 10 (1989), S. 25.

32. 32 Vgl. ebd., S. 25.

33. 33 Why Hebrew Christian? The Hebrew Christian Alliance, Rambsgate, o.J.

34. 34 Ebd., S. 7f.

35. 35 A. Fruchtenbaum zeigt, daß der Kontext dieser Stelle sich auf die Recht- fertigung vor Gott bezieht. Hier sei tatsächlich kein Unterschied zwischen Jude und Heide. Paulus und das NT, so Fruchtenbaum weiter, machten aber durchaus Unterschiede zwischen Mann und Frau, z.B. in ihrer jeweiligen Funktion in der Familie (vgl. 1Kor 14,34f. und Eph 5,22-25). Auch zwischen Sklaven und Freien sei sonst im NT ein Unterschied bewahrt (vgl. Eph 6,5-9). Vgl. A. FRUCHTENBAUM, Hebrew Christianity, S. 23-27. Vgl. auch D. STERN, Messianic Jewish Manifesto, S. 14.

36. 36 Es handelt sich um den sog. antiochenischen Zwischenfall", wo Petrus zunächst mit den Heidenchristen aß, dann jedoch, als einige aus dem Umfeld des Jakobus nach Antiochien kamen, sich zurückzog. Paulus kritisierte diese Handlungsweise scharf (vgl. Gal 2,11-16).

37. 37 Why Hebrew Christian?, S. 13f.

38. 38 D. JUSTER, Covenant and Dispensation, in: Mishkan 2 (1985), S. 35-37.

39. 39 Vgl. P. LIBERMANN, The fig tree blossoms, S. 5.

40. 40 Vgl. S. LIGHTLE, Der II. Exodus. Norden gib heraus, Asslar 1991 und die Israel-Sonderausgabe von Fürbitte für Deutschland" (Markgrafenweg 19, 7272 Altensteig), 1992. Im gleichen Sinne wirkt auch Ari Ben Israel, dessen Dienst ich schon beschrieben habe (s. o. Kap. 2).

41. 41 Why Hebrew Christian?, S. 9f.

42. 42 D. JUSTER, Jewish Roots, S. 107.

43. 43 Vgl. D. STERN, Messianic Jewish Manifesto, S. 5.

44. 44 P. LIBERMANN, The fig tree blossoms, S. 2f.

45. 45 Why Hebrew Christian, S. 10f.

46. 46 Vgl. ebd., S. 11f.

47. 47 Ebd., S. 13.

48. 48 D. STERN, Messianic Jewish Manifesto, S. 3.

49. 49 Vgl. ebd., S. 3.

50. 50 Vgl. ebd., S. 4.

51. 51 Vgl. P. LIBERMANN, The fig tree blossoms, S. 6.

52. 52 D. JUSTER, Jewish Roots, S. 253-258.

53. 53 Ebd., S. 253.

54. 54 Ebd., S. 258.

55. 55 Diese Formulierung klingt verallgemeinernd. Wie ich im Vorwort andeute, herrschen oft sehr verschiedene Ansichten unter den messianischen Juden. Ich versuche in meiner Arbeit und in dieser Zusammenfassung jedoch Linien aufzuzeigen, die sich im Selbstverständnis eines Großteils der messianischen Juden finden.

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